
„ARSCHLOCH“
Mit diesem Wort „verabschiedete“ sie sich und verliess wutentbrannt
die Wohnung. Hätte sie nur ein paar Minuten in die Zukunft blicken können, hätte
sie ihn nicht mit diesen Worten verlassen.
Dieser blöde, sture
Mistkerl. Nie kann er mir Recht geben. NIE NIE NIE!
Sie stritten sich selten, aber wenn, war es immer ein wahres
Feuerwerk an Beschimpfungen und ihr Umfeld, wenn denn welches anwesend war,
musste den Eindruck gewinnen, sie würden sich aufs Tiefste hassen.
Und jetzt verpasse ich
womöglich auch noch den Bus und komme zu spät zur Arbeit. Na toll! Alles seine
Schuld.
Es war tiefster Winter und der Untergrund entsprechend
eisig.
Ich muss vorsichtig
sein, sonst stürze ich. DA! Der Bus!
Es waren nur noch ungefähr 30 Meter bis zur Haltestelle. Sie
rannte los.
AUTSCH. Verdammt.
Scheiss Winter, blödes Eis.
Es kam wie es kommen musste. Ihr tat alles weh. Sie packte
ihre Tasche und den Schlüssel, der ihr aus der Tasche gefallen war und rannte
so schnell sie konnte weiter.
Das schaffe ich.
Sie drückte den Türöffner, immer und immer wieder, doch die Türe
öffnete sich nicht. Im selben Moment nahm der Bus Fahrt auf und fuhr ihr davon.
Sie fluchte. Dieses Mal in Richtung des Busfahrers.
Shit. Was mache ich
jetzt?
Auf den nächsten Bus müsste sie 30 Minuten warten, das geht
keinesfalls.
Mein Fahrrad!
Sie schlurfte genervt zurück und schnappte sich ihr Bike.
Sie überlegte noch kurz, ob sie nochmal hoch in die Wohnung soll, um sich
auszusprechen.
Ich komme so oder so
zu spät, es würde grundsätzlich keine Rolle spielen.
Sie entschied sich dagegen.
Der soll nur noch ein
bisschen grübeln.
Sie weiss, dass es ihm mies geht, aber sie war noch zu
wütend, um ihm Wiedergutmachung zuzugestehen.
Die ersten ihrer gut 30 Minuten Arbeitsweg beschäftigte sie
sich erneut mit der Auseinandersetzung.
Eigentlich ein total
dummer Streit.
Sie schlief schlecht und schnauzte ihn bereits ein erstes Mal
an, als er sie weckte.
Er hat es ja lieb
gemeint…
Sie hatte den Wecker nicht gehört. Er nahm ihr ihre grobe
Art aber nicht übel. Im Gegenteil, er lächelte sie charmant an und gab ihr
einen sanften Kuss.
Er weiss, dass ich am
Morgen schlecht zu sprechen bin.
Sie schlurfte in die Küche und trank in Eile ihre tägliche Tasse
Kaffee. Er ging pfeifend und singend durch die Wohnung.
Ich hatte keine Ahnung,
was er die ganze Zeit treibt und es nervte mich.
Als sie sich schminkte, stand er auf einmal grinsend im
Türrahmen. Sie bemerkte ihn zunächst nicht und erschrak anschliessend dermassen,
dass ihr Lippenstift ihre Lippen weit über die Wangen zu verlängern schien. Den
Ausrutscher korrigierend, fragte sie ihn entnervt, was er denn wolle.
Er grinste trotz
meiner Muffigkeit weiter.
Wie lange sie noch brauche, fragte er.
Ich war unfähig, seine
lieben Absichten zu erkennen.
Sie fühlte sich fälschlicherweise unter Druck gesetzt und
wurde nun richtig wütend. Nun blieb auch er nicht mehr ruhig. Seine Stimmung verschlechterte
sich drastisch und ein wüster Streit entbrannte.
Er wollte mir doch nur
etwas schenken.
Am Höhepunkt ihres Streites warf er ihr unsanft das Geschenk
zu. Eine Seitentasche. Ihr ging vorige Woche ihre Lieblingstasche kaputt,
worüber sie sehr traurig war. Sie wollte sich folglich eine neue Tasche der
Marke „Freitag“ kaufen, welche ihr aber zu teuer war.
Genau diese Tasche
wollte ich. Er erinnerte sich daran.
Ihr war die Situation peinlich. Von den vielen Emotionen
übermannt und zu stolz, konnte sie jedoch nicht nachgeben und sich bei ihm
entschuldigen. Sie warfen sich noch einige Schimpfwörter an den Kopf, ehe sie
die Wohnung verliess.
„Arschloch“ … ich
dumme Kuh.
Sie hatte nun beinahe die Hälfte des Weges geschafft und bog
auf die Hauptstrasse ein. Sie hasste diesen Teil des Weges. Besonders mit dem
Fahrrad. Auf der einen Seite fiel eine Felswand 60 Meter in eine Schlucht
hinab, auf der anderen Seite drohte ein dicht bewachsener Wald jederzeit mit
einem Angriff eines aufgeschreckten Tieres. Da sie auf dem Weg in die Stadt
war, musste sie sich mit der tiefen Schlucht beschäftigen. Sie traute dieser
ungefähr einen Meter hohen Holzplanke am Strassenrand, welche vor einem Sturz in die Schlucht schützen sollte, nicht so wirklich.
Mittlerweile hatte sie sich wieder etwas beruhigt. Klaren
Kopfes bemerkte sie ein ungewöhnliches Gefühl an ihrer rechten Schulter. Sie
suchte die Ursache. Sie fand sein Geschenk.
Ich habe die Tasche
wohl unbewusst angezogen. Sie ist so toll!
Gleichzeitig bemerkte sie in ihrer Jackentasche das Handy
vibrieren. Sie hielt mitten auf der Strasse um zu sehen, wer es ist.
Es hat ja kein
Verkehr.
Sie rechnete mit ihrem Chef, der fragen würde, wo sie denn
sei. Es war ihr Freund. Sie konnte das Telefon jetzt nicht entgegennehmen.
Ich muss mich bei ihm
entschuldigen. Aber richtig. Heute Abend, zu Hause.
So weit sollte es nicht kommen.
Sie wollte das Handy gleich
in ihrer neuen Tasche verstauen und öffnete das vordere, etwas kleinere Fach.
Da ist etwas drin.
Sie zog einen weissen Umschlag heraus mit der Aufschrift „3
wundervolle Jahre. Ich liebe dich mein Schatz“.
Aber unser Jahrestag
ist doch erst am Samstag.
Sie öffnete den Umschlag und fand zwei Flugtickets nach
Paris. Datiert auf den nächsten Samstag. Dabei ein kleiner Zettel: „Mit deinem
Boss hab ich alles geklärt, du kriegst eine Woche Urlaub.“
Sie wurde übermannt
von ihren Gefühlen. Tränen füllten ihre Augen.
Ach ich war ja so dumm…
Sie platzte beinahe vor Liebe zu ihm. Sie wollte alles und
jeden Umarmen. Am liebsten aber ihren Freund.
Ich würde ihn nie mehr
loslassen. NIE NIE NIE!
Just in jenem Moment bemerkte sie ein entgegenkommendes
Fahrzeug. Sie wich gerade ein wenig weiter an die Holzplanke, als sie registrierte,
dass das Auto leicht ins schliddern geriet.
Das Auto ist viel zu
schnell! Wenn das nur gut geht!
Der Autofahrer verlor vollends die Kontrolle über sein
Fahrzeug.
SCHEISSE!
Panisch sprang sie von ihrem Fahrrad und rannte in die entgegengesetzte
Richtung.
Sie rannte und rannte, ohne zu sehen, wie nahe das Auto
mittlerweile war. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie funktionierte
einfach. Ihre Beine bewegten sich, ihr Kopf konnte nicht definieren wie.
Plötzlich spürte sie einen gewaltigen Aufprall. Sie konnte
spüren, wie Knochen in ihr barsten. Der Boden unter ihren Füssen verschwand und
wich einer Leere. Sie wurde von höllischen Schmerzen begleitet in die Luft
gespickt.
Von jenem Moment an verlief alles in Zeitlupe und sie fand
ihre klaren Gedanken wieder. Sie versuchte sich, mit den Armen ringend und den
Beinen strampelnd, irgendwo festzuhalten und Halt zu finden. Vergeblich.
Sie sah die Holzplanke unter ihr vorbeiziehen. Sie wird die
Klippen hinunterstürzen. Sie wusste es. Es geschah quälend langsam, aber sie
würde sterben, dessen war sie sich bewusst. Ihr Körper versuchte sich immer noch
dagegen zu wehren, doch innerlich glaubte sie nicht daran, dass sie das
überleben würde.
Ein schmerzt fernab der gebrochenen Knochen durchzuckte sie.
Es war ein Gefühl, ein gewaltiges Schuldbewusstsein. Schmerzhafter als alle ihre physischen Qualen
zusammen. Sie wird ihn nie mehr sehen. Sie wird ihn nie mehr umarmen und küssen
können. Sie wird ihm nie danken können. Sie wird ihm nie mehr sagen können, wie
sehr sie ihn doch liebt. Schlimmer noch: das
Letzte, woran er sich erinnern wird, wenn er an sie dachte, war
Arschloch!
Es war, als würde ihr Herz implodieren und ihre Seele
qualvoll ersticken.
Er war mein Leben. Und
das Letzte, was ich ihm gesagt habe, war….
Sie spürte den abrupten Wechsel von Fallen zu plötzlichem
Stillstand. Sie rechnete damit, dass alles schwarz wurde. Dass der Schmerz
enden würde. Doch er endete nicht. Der psychische nicht. Den physischen nahm
sie gar nicht wahr. Sie blendete die Wahrnehmung der Welt um sich herum aus.
Bin ich tot?
Sie zwang sich zurück ins Bewusstsein.
Sie schwebte. Weit über der Schlucht.
Sie lebte!
Aber warum? Wie?
Sie hatte kaum mehr Kraft. Sie merkte, wie ihre
Umhängetasche an ihr zerrte. Sie blickte nach oben und sah, dass die Tasche an
einem hervorstehenden Ast hängenblieb und sie am Sturz hinderte. Sie war keine
2 Meter in die Tiefe gefallen, ehe sie die Tasche rettete.
Danach wurde sie Ohnmächtig.
Sie erwachte im Krankenhaus. War schwach und hatte starke
Schmerzen. Sie erblickte ihren Freund, neben dem Bett sitzend, ihre Hand
festhaltend. Verzweifelt lächelte er sie an. Tränen zierten sein Gesicht. Sie bündelte all ihre verbleibende Kraft. Nur für ein paar Worte.
Danach brauche ich keine Kraft mehr.
Sie
flüsterte:
„Ich liebe dich!“
...dann schlief sie ein...
Esch en sehr schöni Gschicht - wie emmer - ha au fasch Träne öbercho. ha mier alles bildlich sehr guet chönne vorstelle.
AntwortenLöschenSuper, genial, esch en wonderschöni Gschecht ond het es tolls ändi. Danke!!!
AntwortenLöschenDanke euch zwei für die Lieben Kommentare :)
AntwortenLöschenWow, wunderbar geschrieben. Da wurden meine Augen doch glatt mal etwas feucht... =)
AntwortenLöschenUnd zum Joggen: Bei Glatteis, wie es hier im Moment ist, läuft es sich im Schritttempo noch nicht einmal sehr gut. Da bin ich immer schon froh, wenn ich von A nach B komme, ohne mich auf den Hosenboden zu legen....
Liebe Grüße
Puh, am Anfang dachte ich: woher weiß er, wie und warum wir uns heute gestritten haben... (nicht weil ich spät dran war, sondern weil ich schlecht geschlafen hatte. Er dagegen hatte furchtbar gute Laune).
AntwortenLöschenDu hast mir mit dieser Geschichte Tränen und Gänsehaut beschert... und mich nachdenklich gemacht. Danke!
Wow, ich bin zu Tränen gerührt. Sehr schöne Geschichte und doch so traurig. Könnte aber auch echt sein. Ich bin fasziniert.
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