Freitag, 25. Januar 2013



„ARSCHLOCH“

Mit diesem Wort „verabschiedete“ sie sich und verliess wutentbrannt die Wohnung. Hätte sie nur ein paar Minuten in die Zukunft blicken können, hätte sie ihn nicht mit diesen Worten verlassen.


Dieser blöde, sture Mistkerl. Nie kann er mir Recht geben. NIE NIE NIE!

Sie stritten sich selten, aber wenn, war es immer ein wahres Feuerwerk an Beschimpfungen und ihr Umfeld, wenn denn welches anwesend war, musste den Eindruck gewinnen, sie würden sich aufs Tiefste hassen.

Und jetzt verpasse ich womöglich auch noch den Bus und komme zu spät zur Arbeit. Na toll! Alles seine Schuld.

Es war tiefster Winter und der Untergrund entsprechend eisig.

Ich muss vorsichtig sein, sonst stürze ich. DA! Der Bus!

Es waren nur noch ungefähr 30 Meter bis zur Haltestelle. Sie rannte los.

AUTSCH. Verdammt. Scheiss Winter, blödes Eis.

Es kam wie es kommen musste. Ihr tat alles weh. Sie packte ihre Tasche und den Schlüssel, der ihr aus der Tasche gefallen war und rannte so schnell sie konnte weiter.

Das schaffe ich.

Sie drückte den Türöffner, immer und immer wieder, doch die Türe öffnete sich nicht. Im selben Moment nahm der Bus Fahrt auf und fuhr ihr davon. Sie fluchte. Dieses Mal in Richtung des Busfahrers.

Shit. Was mache ich jetzt?

Auf den nächsten Bus müsste sie 30 Minuten warten, das geht keinesfalls.

Mein Fahrrad!

Sie schlurfte genervt zurück und schnappte sich ihr Bike. Sie überlegte noch kurz, ob sie nochmal hoch in die Wohnung soll, um sich auszusprechen.

Ich komme so oder so zu spät, es würde grundsätzlich keine Rolle spielen.

Sie entschied sich dagegen.

Der soll nur noch ein bisschen grübeln.

Sie weiss, dass es ihm mies geht, aber sie war noch zu wütend, um ihm Wiedergutmachung zuzugestehen.

Die ersten ihrer gut 30 Minuten Arbeitsweg beschäftigte sie sich erneut mit der Auseinandersetzung.

Eigentlich ein total dummer Streit.

Sie schlief schlecht und schnauzte ihn bereits ein erstes Mal an, als er sie weckte.

Er hat es ja lieb gemeint…

Sie hatte den Wecker nicht gehört. Er nahm ihr ihre grobe Art aber nicht übel. Im Gegenteil, er lächelte sie charmant an und gab ihr einen sanften Kuss.

Er weiss, dass ich am Morgen schlecht zu sprechen bin.

Sie schlurfte in die Küche und trank in Eile ihre tägliche Tasse Kaffee. Er ging pfeifend und singend durch die Wohnung.

Ich hatte keine Ahnung, was er die ganze Zeit treibt und es nervte mich.

Als sie sich schminkte, stand er auf einmal grinsend im Türrahmen. Sie bemerkte ihn zunächst nicht und erschrak anschliessend dermassen, dass ihr Lippenstift ihre Lippen weit über die Wangen zu verlängern schien. Den Ausrutscher korrigierend, fragte sie ihn entnervt, was er denn wolle.

Er grinste trotz meiner Muffigkeit weiter.

Wie lange sie noch brauche, fragte er.  

Ich war unfähig, seine lieben Absichten zu erkennen.

Sie fühlte sich fälschlicherweise unter Druck gesetzt und wurde nun richtig wütend. Nun blieb auch er nicht mehr ruhig. Seine Stimmung verschlechterte sich drastisch und ein wüster Streit entbrannte.

Er wollte mir doch nur etwas schenken.

Am Höhepunkt ihres Streites warf er ihr unsanft das Geschenk zu. Eine Seitentasche. Ihr ging vorige Woche ihre Lieblingstasche kaputt, worüber sie sehr traurig war. Sie wollte sich folglich eine neue Tasche der Marke „Freitag“ kaufen, welche ihr aber zu teuer war.

Genau diese Tasche wollte ich. Er erinnerte sich daran.

Ihr war die Situation peinlich. Von den vielen Emotionen übermannt und zu stolz, konnte sie jedoch nicht nachgeben und sich bei ihm entschuldigen. Sie warfen sich noch einige Schimpfwörter an den Kopf, ehe sie die Wohnung verliess.

„Arschloch“ … ich dumme Kuh.

Sie hatte nun beinahe die Hälfte des Weges geschafft und bog auf die Hauptstrasse ein. Sie hasste diesen Teil des Weges. Besonders mit dem Fahrrad. Auf der einen Seite fiel eine Felswand 60 Meter in eine Schlucht hinab, auf der anderen Seite drohte ein dicht bewachsener Wald jederzeit mit einem Angriff eines aufgeschreckten Tieres. Da sie auf dem Weg in die Stadt war, musste sie sich mit der tiefen Schlucht beschäftigen. Sie traute dieser ungefähr einen Meter hohen Holzplanke am Strassenrand, welche vor einem Sturz in die Schlucht schützen sollte, nicht so wirklich.

Mittlerweile hatte sie sich wieder etwas beruhigt. Klaren Kopfes bemerkte sie ein ungewöhnliches Gefühl an ihrer rechten Schulter. Sie suchte die Ursache. Sie fand sein Geschenk.

Ich habe die Tasche wohl unbewusst angezogen. Sie ist so toll!

Gleichzeitig bemerkte sie in ihrer Jackentasche das Handy vibrieren. Sie hielt mitten auf der Strasse um zu sehen, wer es ist.

Es hat ja kein Verkehr.

Sie rechnete mit ihrem Chef, der fragen würde, wo sie denn sei. Es war ihr Freund. Sie konnte das Telefon jetzt nicht entgegennehmen.

Ich muss mich bei ihm entschuldigen. Aber richtig. Heute Abend, zu Hause.

So weit sollte es nicht kommen. 

Sie wollte das Handy gleich in ihrer neuen Tasche verstauen und öffnete das vordere, etwas kleinere Fach.

Da ist etwas drin.

Sie zog einen weissen Umschlag heraus mit der Aufschrift „3 wundervolle Jahre. Ich liebe dich mein Schatz“.

Aber unser Jahrestag ist doch erst am Samstag.

Sie öffnete den Umschlag und fand zwei Flugtickets nach Paris. Datiert auf den nächsten Samstag. Dabei ein kleiner Zettel: „Mit deinem Boss hab ich alles geklärt, du kriegst eine Woche Urlaub.“ 

Sie wurde übermannt von ihren Gefühlen. Tränen füllten ihre Augen.

Ach ich war ja so dumm…

Sie platzte beinahe vor Liebe zu ihm. Sie wollte alles und jeden Umarmen. Am liebsten aber ihren Freund.

Ich würde ihn nie mehr loslassen. NIE NIE NIE!

Just in jenem Moment bemerkte sie ein entgegenkommendes Fahrzeug. Sie wich gerade ein wenig weiter an die Holzplanke, als sie registrierte, dass das Auto leicht ins schliddern geriet.

Das Auto ist viel zu schnell! Wenn das nur gut geht!

Der Autofahrer verlor vollends die Kontrolle über sein Fahrzeug. 

SCHEISSE!

Panisch sprang sie von ihrem Fahrrad und rannte in die entgegengesetzte Richtung.

Sie rannte und rannte, ohne zu sehen, wie nahe das Auto mittlerweile war. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie funktionierte einfach. Ihre Beine bewegten sich, ihr Kopf konnte nicht definieren wie.

Plötzlich spürte sie einen gewaltigen Aufprall. Sie konnte spüren, wie Knochen in ihr barsten. Der Boden unter ihren Füssen verschwand und wich einer Leere. Sie wurde von höllischen Schmerzen begleitet in die Luft gespickt.

Von jenem Moment an verlief alles in Zeitlupe und sie fand ihre klaren Gedanken wieder. Sie versuchte sich, mit den Armen ringend und den Beinen strampelnd, irgendwo festzuhalten und Halt zu finden. Vergeblich.

Sie sah die Holzplanke unter ihr vorbeiziehen. Sie wird die Klippen hinunterstürzen. Sie wusste es. Es geschah quälend langsam, aber sie würde sterben, dessen war sie sich bewusst. Ihr Körper versuchte sich immer noch dagegen zu wehren, doch innerlich glaubte sie nicht daran, dass sie das überleben würde.

Ein schmerzt fernab der gebrochenen Knochen durchzuckte sie. Es war ein Gefühl, ein gewaltiges Schuldbewusstsein.  Schmerzhafter als alle ihre physischen Qualen zusammen. Sie wird ihn nie mehr sehen. Sie wird ihn nie mehr umarmen und küssen können. Sie wird ihm nie danken können. Sie wird ihm nie mehr sagen können, wie sehr sie ihn doch liebt. Schlimmer noch: das Letzte, woran er sich erinnern wird, wenn er an sie dachte, war

Arschloch!

Es war, als würde ihr Herz implodieren und ihre Seele qualvoll ersticken.

Er war mein Leben. Und das Letzte, was ich ihm gesagt habe, war….

Sie spürte den abrupten Wechsel von Fallen zu plötzlichem Stillstand. Sie rechnete damit, dass alles schwarz wurde. Dass der Schmerz enden würde. Doch er endete nicht. Der psychische nicht. Den physischen nahm sie gar nicht wahr. Sie blendete die Wahrnehmung der Welt um sich herum aus.

Bin ich tot?

Sie zwang sich zurück ins Bewusstsein. 

Sie schwebte. Weit über der Schlucht.

Sie lebte!

Aber warum? Wie?

Sie hatte kaum mehr Kraft. Sie merkte, wie ihre Umhängetasche an ihr zerrte. Sie blickte nach oben und sah, dass die Tasche an einem hervorstehenden Ast hängenblieb und sie am Sturz hinderte. Sie war keine 2 Meter in die Tiefe gefallen, ehe sie die Tasche rettete.

Danach wurde sie Ohnmächtig.

Sie erwachte im Krankenhaus. War schwach und hatte starke Schmerzen. Sie erblickte ihren Freund, neben dem Bett sitzend, ihre Hand festhaltend. Verzweifelt lächelte er sie an. Tränen zierten sein Gesicht. Sie bündelte all ihre verbleibende Kraft. Nur für ein paar Worte. 

Danach brauche ich keine Kraft mehr. 

Sie flüsterte:

„Ich liebe dich!“

...dann schlief sie ein...

6 Kommentare:

  1. Esch en sehr schöni Gschicht - wie emmer - ha au fasch Träne öbercho. ha mier alles bildlich sehr guet chönne vorstelle.

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  2. Super, genial, esch en wonderschöni Gschecht ond het es tolls ändi. Danke!!!

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  3. Danke euch zwei für die Lieben Kommentare :)

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  4. Wow, wunderbar geschrieben. Da wurden meine Augen doch glatt mal etwas feucht... =)

    Und zum Joggen: Bei Glatteis, wie es hier im Moment ist, läuft es sich im Schritttempo noch nicht einmal sehr gut. Da bin ich immer schon froh, wenn ich von A nach B komme, ohne mich auf den Hosenboden zu legen....

    Liebe Grüße

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  5. Puh, am Anfang dachte ich: woher weiß er, wie und warum wir uns heute gestritten haben... (nicht weil ich spät dran war, sondern weil ich schlecht geschlafen hatte. Er dagegen hatte furchtbar gute Laune).
    Du hast mir mit dieser Geschichte Tränen und Gänsehaut beschert... und mich nachdenklich gemacht. Danke!

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  6. Wow, ich bin zu Tränen gerührt. Sehr schöne Geschichte und doch so traurig. Könnte aber auch echt sein. Ich bin fasziniert.

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